Sitzen geblieben.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Rostocker Zeitung” vom 01.05.1904,
in: „Indiana Tribüne” vom 08.06.1904


Eddi ist sitzen geblieben. Und das gründlich. Als achter von den neunen, welche nach dem Rathschlusse der Lehrerkonferenz die Reife für die Sexta noch nicht erlangt hatten. Und es hätte noch schlimmer werden können , wenn der neunte nicht acht Monate und vierzehn Tage überhaupt gefehlt hätte. Wegen Rhachitis oder dergleichen.

Gewußt hatte es Eddis Papa längst. Dafür war er Hauptzollamtsassistent und Kegelbruder des Ordinarius der Oberseptima. Er hatte im Laufe des Jahres manche Ratze geschoben — in kummervoller Zerstreutheit ob der trostlosen Mittheilungen, die ihm über Eddichens Talente gelegentlich gemacht worden waren.

Er hatte erfahren, daß die Diktate seines Sohnes nur wegen der beschränkten Anzahl von Censurziffern unter die V nicht herabreichten. Und Schönschreiben? Schönschreiben war für Eddi nie ein Qualitätsbegriff gewesen. Schönschreiben war lediglich die Bezeichnung einer bestimmten Gattung von Heften, die immer „voll” waren und deren Liniatur sich den handschriftlichen Eintragungen Eddichens niemals anzupassen vermocht hat. Im Rechnen pflegte er von fünf Aufgaben immer nur eine zu lösen — diese dafür aber falsch. Sein Aufgabenheft benutzte er zu Notizen über die Anpflanzung von Apfelsinenkernen, über das jüngste Wochenbett der Hauskatze u. s. w. Für die Schularbeiten genügte ihm sein Gedächtniß, das sich leider aber in den meisten Fällen als unzulänglich erwies.

Aber auch ein Hauptzollamtsassistent gehört zu den Menschen, von denen der Dichter sagt, daß sie hoffen, so lange sie leben. Und weshalb hätte er nicht hoffen sollen! Er hatte mehr als blos die naturgesetzliche Liebe für seinen Sohn; er hatte ferner einen unbegrenzten Glauben an das sachliche Urtheil seiner Frau in Angelegenheiten der Kinder. Weshalb also hätte er neben der Liebe und dem Glauben der dritten der drei göttlichen Tugenden sich verschließen sollen?

Seine Gattin hatte ihn nicht ein-, nein zehnmal darauf verwiesen, daß die moderne Pädagogik viel weniger Werth legt auf die Leistungen in einzelnen Unterrichtsfächern, als auf die allgemeine Bildung! Sie begriffe nicht, wie er auch nur einen Moment daran zweifeln könne, daß Eddis außergewöhnliche Intelligenz am entscheidenden Tage ihre Anerkennung finden würde. So ein Lehrer sei doch immerhin ein gebildeter Mensch und würde sich keinesfalls die Blöße geben, eine so charaktervolle Individualität, wie Eddi Mühlbrecht, nach der Schablone zu beurtheilen. —

Der Tag der Entscheidung kam. Und wie alle großen Ereignisse, warf auch er seine Schatten voraus.

Am Abend vorher sprach Eddi sein Nachtgebet mit einer geradezu befremdlichen Inbrunst. Er versicherte so nachdrücklich, daß er klein und sein Herz rein sei, daß die Frau Hauptzollamtsassistent ihrem Gatten mit feuchten Augen zublinkte. Alsdann versäumte er — wiederum ganz gegen seine Gewohnheit — sein kleines Schwesterchen mit Strümpfen und anderen ihm vom Bette aus erreichbaren Gegenständen zu werfen. Nachdem er eine Stunde lang in schlafähnlicher Ruhe verharrt, erwiderte er auf die besorgte Frage der Mutter, ob ihm nicht gut sei: „Bis jetzt fehlt mir noch nix, Ma', ich glaube aber, daß ich morgen Dufteritis kriegen werde.” —

Und thatsächlich war Eddi am anderen Morgen unpäßlich. Er aß seine drei Kaffeesemmeln mit merklich leidendem Ausdruck, der sich nur einmal flüchtig aufklärte, als seinem Schwesterchen das Malheur passirte, den Milchtopf umzuwerfen. Die übliche Füllung seiner Frühstücksdose lehte er ab. Mit solchen Halschmerzen, wie er sie habe, würde kein Mensch essen können. Außerdem daure die Schule nur bis zehn.

Dann zog er ab — wie Jemand, der von den ihm nächststehenden Menschen rohen Gemüths in ein schweres, dunkles Verhängniß geschickt wird.

Frau Mühlbrecht mußte etwas ähnliches empfinden. Darauf wenigstens deutete die Bemerkung hin, daß es eine merkwürdige Erscheinung sei, wie in der Seele des Mannes selbstverständliche Empfindungen — wie beispielsweise die Liebe zum eigenen Fleisch und Blut, die doch selbst ein Tiger vielfach äußere — manchmal so ganz zum Schweigen gebracht werden könnten.

Ein Viertel nach zehn Uhr betrat Frau Mühlbrecht das Dienstzimmer ihres Mannes. Bleich, mit einem herben Zug um den Mund. Sie sah den Gatten an mit Augen, wie sie unser Herrgott gemacht haben muß, als er Kain fragte: „Wo ist Dein Bruder Abel?”

„Eddi ist noch nicht zu Haus.”

Das klang einfach und ruhig, aber — es war Niobe, die da sprach.

Da er weder aufsprang, noch die Hände an die Schläfen preßte, sondern lediglich die Uhr zog, verließ die kleine Frau mit einer jähen Wendung und ohne weiter ein Wort zu verlieren, das Lokal. Er war wieder einmal gerichtet.

Ein Viertel nach zehn. Der Hauptzollamtsassistent hatte die Uhr in der Hand behalten und ließ sie in Gedanken repetiren. Es wurde nicht mehr. — Also was war denn?

Wohl kam es vor, daß Eddi schon zehn Minuten nach Schulschluß anschwirrte — wenn es grüne Erbsen gab oder wenn er mit den Portierskindern einen Hereroaufstand verabredet hatte. Gemeinhin aber bethätigte er die Neigung, die halbe Klasse nach Hause zu begleiten — wobei es denn auch vorkam, daß er sich in zeitraubende Ehrenhändel verwickelte.

Immerhin — heute war ein besonderer Tag; ein kritischer Tag allererster Ordnung.

Der Beamte bat einen Kollegen, ihn zu vertreten. Er ging nach Hause.

„Ist Eddi schon da?”

„Neieiei-n.”

Das klang so verstört, daß Mühlbrecht, ärgerlich über ein solches Gehabe, die Thür der Wohnstube schmetternd hinter sich in's Schloß warf und in sein Zimmer ging.

Dennoch hätte er viel darum gegeben, wenn er den Jungen draußen schon gehört hätte.

Es blieb alles still. Nur ein Taschentuch wurde im Wohnzimmer benutzt — wie man schnaubt, wenn man weint. Dann wurde ein Fenster geöffnet. Dann wieder das Taschentuch.

Er stand auf und sah abermals nach der Uhr. Vierzig Minuten nach zehn. Sonderbar. Ihm war, als müsse es schon nach elf sein. —

Und nun kamen ihm — immer einer nach dem anderen — alle die grausigen Fälle in Erinnerung, in denen Kinder aus verletztem Ehrgefühl sich ein Leids angethan hatten. Verschieden waren in's Wasser gegangen, andere wieder hatten sich unter einen Eisenbahnzug geworfen — allmächtiger Gott! Eddi hatte einen Bahndamm zu passiren.—

Der Hauptzollamtsassistent Mühlbrecht hatte nur enige Haare, diese wenigen aber sträubten sich — und wenn der liebe, nichtsnutzige Bengel in diesem Augenblick eingetreten wäre, er hätte ihn gehauen und geküßt in einem Athem.

Nichts. Eddi kam nicht.

Auf Zehenspitzen schlich der unglückliche Vater hinaus, ergriff seinen Hut und eilte mit schlotternden Knieen die Treppe hinunter auf die Gasse.

Aber gleich hinter der nächsten Straßenecke verschlug ihm der Athem in heiß aufquellender Glückseligkeit.

Da stand er! An einem Schaufenster. Leibhaftig und lebendig! Absolut lebendig!

Die Prinz-Heinrich-Mütze im Genick, die Schulmappe mit der ihm eigenen Liederlichkeit schief und offen auf dem Rücken; den einen Riemen der Mappe wie immer in der Hand und in der anderen eine Semmel, die er sich von einem Kameraden ausgeborgt haben mußte. Mit vollen Backen kauend, besah er alle Ecken einer Auslage, für die er sonst wenig Interesse haben konnte — Nouveautes in Frühjahrs-Damenhüten.

Der Vater trat in einen Cigarrenladen — und gerade zur rechten Zeit, um nicht bemerkt zu werden. Denn in demselben Moment hatte Eddi sich abgewandt und balancirte, immer ein Bein hart vor das andere setzend, auf den äußersten Kantsteinen des Trottoirs um die Ecke.

Nachdem der glückliche Papa zur Feier der Wiederfindung des verlorenen Sohnes noch einige Cigarren besserer Sorte erstanden, folgte er dem Knaben beruhigten Gemüths. Wer aber beschreibt seinen Schreck, als seine Gattin ihm auf dem Flur entgegenstürzt:

„Wo ist mein Kind?”

„Aber, Liebste, — er muß doch schon da sein,” stammelte er entsetzt. „Ich habe ihn gesehen!”

„Eddi —!!”

Sein Ruf dröhnte durch die Etage, daß die Scheiben klirrten und der Kanarienvogel am Flurfenster erschrocken von der Stange fiel.

„Hier bin ich —” echote es zaghaft aus einem gewissen halbdunklen Verschlage.

Eddi erklärte, daß er zwar nicht versetzt sei, daß er aber heftige Leibschmerzen habe — und der Doktor , den er unterwegs getroffen, habe ausdrücklich gesagt, daß er keine Prügel kriegen dürfe. —

Er bekam keine. Nicht einmal Schelte. Was die Frau Hauptzollamtsassistent zu sagen hatte angesichts der niederschmetternden Thatsache, entlud sich über dem Haupte ihres Gatten.

Er hätte es längst wissen müssen. —

Dafür war er der Vater und Kegelbruder des ordinarius der Oberseptima. Was hatte es für einen Zweck, daß sie zweimal wöchentlich mit dem Abendbrot warten mußte, wenn er doch nicht verhindern konnte, daß sein Sohn ungerecht behandelt wurde. Selbstverständlich dürfe man sich das nicht gefallen lassen. Er müsse zunächst seinen Austritt aus dem Kegelklub erklären und dann eine geharnischte Beschwerde an das Kultusministerium richten. Tante Ulrike wäre dadurch auch zu ihrem Rechte gekommen, als die städtische Schuldeputation ihr Lehrerinnengehalt verkürzen wollte. —

Eddi schien das durchaus einzuleuchten. Reden konnte er im Moment nicht, da er trotz seiner Leibschmerzen mit ein paar umfänglichen Stullen beschäftigt war und beide Backentaschen voll hatte. Aber er nickte lebhaft. Als er dann den Bissen heruntergewürgt, schluckte er noch ein paarmal und krähte lebhaft:

„Na, ja — Tante Ulrike ist sogar Lehrerin und ist auch sitzen geblieben!”

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